Theodor Fontane über den Wedding
"Prosaische Dürftigkeit"
Theodor Fontane über den Wedding
Der berühmte deutsche Schriftsteller Theodor Fontane (1819 - 1898) nahm auf seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg um 1870 den Wedding wie folgt wahr:
“So zieht sich die Oranienburger Vorstadt bis zur Pankenbrücke; jenseits derselben aber ändert sie Namen und Charakter. Der sogenannte ‚Wedding’ beginnt, und an die Stelle der Fülle, des Reichtums, des Unternehmungsgeistes treten die Bilder jener prosaischen Dürftigkeit, wie sie dem märkischen Sande ursprünglich eigen sind.
Kunst, Wissenschaft, Bildung haben in diesem armen Lande einen schwereren Kampf gegen die widerstrebende
Natur zu führen gehabt als vielleicht irgendwo anders, und in gesteigerter Dankbarkeit gedenkt man jener Reihenfolge organisatorischer Fürsten, die seit anderthalb Jahrhunderten Land und Leute
umgeschaffen, den Sumpf und den Sand in ein Fruchtland verwandelt und die Rohheit und den Ungeschmack zu Sitte und Bildung herangezogen haben. ...
Was auf das eine halbe Meile hin diesen ganzen Stadtteil charakterisiert, das ist die völlige Abwesenheit alles dessen, was wohltut, was gefällt. In erschreckender Weise fehlt der Sinn für das Malerische. Die Häuser sind meist in gutem Stand; nirgends die Zeichen schlechter Wirtschaft oder des Verfalls; die Dachziegel weisen keine Lücke auf, und keine angeklebten Streifen Papier verkürzen dem Glaser sein Recht und seinen Verdienst; das Holzgitter, das das Haupt- und Nebengebäude umzieht, ist wohlerhalten, und der junge Baum, der in der Nähe der Haustür steht, hat seinen Pfosten, daran er sich lehnt, und seinen Bast, der ihn hält.
Überall ein Geist mäßiger Ordnung, mäßiger Sauberkeit, über all das Bestreben, sich nach der Decken zu strecken und durch Fleiß und Sparsamkeit sich weiterzubringen, aber nirgends das Bedürfnis, das Schöne, das erhebt und erfreut, in etwas anderem zu suchen als in der Neuheit eines Anstrichs oder in der Geradlinigkeit eines Zauns.
Man will keine Schwalbe am Sims – sie bringen Ungeziefer; man will keinen Efeu am Haus – er schädigt das Mauerwerk; man will keine Zierbäume im Hof und Garten – sie machen feucht und halten das Licht ab; man will nicht Laube, nicht Veranda – was sollte man damit? Nützlichkeit und Nüchternheit herrschen souverän und nehmen der Erscheinung des Lebens allen Reiz und alle Farbe. Grün und gelb und rot wechseln die Häuser und liegen doch da wie eingetaucht in ein allgemeines, trostloses Grau.
Den kläglichsten Anblick aber gewähren die sogenannten Vergnügungsörter. Man erschrickt bei dem Gedanken, daß es möglich sein soll, an solchen Plätzen das Herz zu erlaben und zu neuer Wochenarbeit zu stärken. Wie Ironie tragen einige die Inschrift: ‚Zum freundlichen Wirt‘. Man glaubt solcher Inschrift nicht. Wer könnte freundlich sein in solcher Behausung und Umgebung?
An der Eingangstür hängen zwei Wirtshausschildereien, bekannte Genrebildszenen, die mehr an die Götzen und Kunstzustände der Sandwich-Inseln als an die Nachbarschaft Berlins erinnern, und als einziger Anklang an Spiel und Heiterkeit zieht sich am Holzgitter des Hauses eine Kegelbahn entlang, deren kümmerliches und ausgebleichtes Lattenwerk dasteht wie das Skelett eines Vergnügens.“
Aus: Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Band V (Havelland), Abschnitt Tegel, Berlin, 1880.
Man spürt in Fontanes Beschreibung eine gewisse Überheblichkeit des gebildeten Bürgers, der unbelastet von wirtschaftlicher Not seinen Sinn für das Schöne entwickeln konnte, gegenüber der dürftigeren Lebensweise im Wedding. Die Menschen hier mussten sich um ihr Auskommen sorgen und hatten keine Zeit für - aus ihrer Sicht - unnützen künstlerischen oder malerischen Firlefanz. Sie wollten sich keine unnötige Arbeit mit Dekoration machen und keine Energie in Dinge stecken, die für sie mehr Nachteile als Vorteile mit sich brachten.
Vergnügen und Erholung fanden für sie anderswo statt - auch wenn die entsprechenden
Orte dafür nicht nach Fontanes bürgerlichem Geschmack waren.